Unwiderlegbar!

Die Wissenschaft verändert sich ständig – aber selbst wenn eine wissenschaftliche Theorie durch eine bessere ersetzt wird, landet die alte nicht auf dem Müllplatz.

Wissenschaft kann auf unterschiedliche Arten wachsen. Manchmal blühen durch neue Entdeckungen ganz neue Forschungszweige auf, die es vorher noch gar nicht gab – so wurde etwa durch die Entwicklung des Computers die Informatik geboren, die Mikrobiologie hat völlig neue Sprösslinge in der medizinischen Forschung hervorgebracht, und die Quantenphysik hat der Chemie Flügel wachsen lassen. Wenn so etwas geschieht, wirft das neue Forschungsgebiet Fragen auf, die noch nie gestellt wurden – die Antworten können daher kaum in Widerspruch mit der bisherigen Wissenschaft geraten. Manchmal aber wird durch neue Entdeckungen und Erkenntnisse auch ein bestehendes Wissenschaftsgebiet umgebaut, auf alte Fragen müssen neue Antworten gefunden werden, die Dominanz einer alten Theorie wird von der Überzeugungskraft einer neuen, mächtigeren gebrochen. Dieser Vorgang ist ein ganz normaler Teil des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns.

Werkzeug
Wissenschaftliche Theorien sind Werkzeuge - mit definiertem Nutzen und Einsatzbereich

Wandelbar und trotzdem verlässlich

Wenn aber wissenschaftliche Theorien sich ständig verändern können, warum sollen wir uns dann auf sie verlassen? Wenn das Weltbild der Wissenschaft vielleicht in zwanzig Jahren wieder ganz anders aussieht, soll ich dann nicht gleich auf mein Bauchgefühl vertrauen, und darauf warten, dass sich die Wissenschaft eines Tages an meine Vorlieben anpasst, anstatt meine Handlungen nach wissenschaftlichen Erkenntnissen zu richten? Natürlich nicht! Die Wissenschaft ist höchst wandelbar, aber gleichzeitig solide und zuverlässig. Das ist nur scheinbar paradox – wir müssen uns nur von der Vorstellung lösen, dass neue Theorien die alten widerlegen, wegwischen und unbrauchbar machen.

Wenn ich einen Akkuschrauber kaufe, wurde mein Schraubenzieher nicht widerlegt. Die elektrische Variante ist komplizierter und vielseitiger, sie kann Probleme lösen, bei denen ich mit dem einfachen Schraubenzieher gescheitert wäre – doch all das, wofür mein Schraubenzieher früher gut genug war, kann er auch heute noch leisten. Bei wissenschaftlichen Theorien ist das genauso: Sie sind Werkzeuge, die einen pragmatischen Zweck erfüllen – und den erfüllen sie auch in Zukunft, für immer, selbst wenn es eines Tages andere Theorien geben sollte, die sich als noch besser herausstellen. Darauf können wir uns verlassen.

Verschiedene Werkzeuge für verschiedene Aufgaben

Manche Theorien funktionieren zwar hervorragend, gelten nur für einen bestimmten Bereich der Wirklichkeit. Newtons klassische Mechanik, die Theorie der Kräfte und Beschleunigungen, die im unseren Alltag so erfolgreich ist und die Bahnen von Himmelskörpern, Mondraketen, oder Billardkugeln präzise beschreibt, ist ein Beispiel für ein höchst wertvolles Forschungswerkzeug. Im Bereich winzig kleiner Distanzen reicht sie aber nicht aus – um Atome und Moleküle zu beschreiben, braucht man die Quantenphysik. Im Bereich riesengroßer Geschwindigkeiten reicht sie auch nicht aus – um Objekte zu beschreiben, die sich der Lichtgeschwindigkeit nähern, braucht man die Relativitätstheorie. Durch diese Erkenntnisse wurde die klassische Mechanik aber nicht widerlegt! Newton hatte deshalb nicht unrecht – seine Formeln stimmen heute noch genauso präzise mit den Messungen überein wie damals. Deshalb werden seine Formeln heute auch für eine unüberblickbare Fülle von technischen Problemstellungen verwendet – ungeachtet der neuen Theorien. Wissenschaftler betreiben großen Aufwand, um im Labor Extremsituationen herzustellen, in denen die Unterschiede zwischen den alten und den neuen Ideen groß genug werden um sie messen zu können. Wer die Fahrzeit eines Zuges berechnet wird aber sicher auf Newtons alte Formeln zurückgreifen – die neueren Formeln, die Einstein aufgestellt hat, wären zwar theoretisch exakter, doch niemand könnte den winzigen Unterschied zwischen den beiden Modellen jemals feststellen – und die Rechnung würde dadurch unnötigerweise um ein Vielfaches komplizierter. Die gute alte klassische Mechanik erweist sich also immer noch als nützlich – und auch in Jahrhunderten werden ihre Formeln die Verkehrsprobleme noch richtig lösen – selbst wenn unsere Nachfahren dann mit völlig andersartigen Verkehrsmitteln unterwegs sein sollten.

Was heute stimmt, ist auch morgen wahr

Natürlich können jeden Tag durch zündende Geistesblitze wissenschaftliche Revolutionen entfacht werden, doch in den Naturwissenschaften lässt sich zwischen verlässlichem Wissen und spekulativen Theorien normalerweise recht gut unterscheiden. Als zuverlässig kann gelten, was sich in der Praxis bewährt hat. Ein Modell ist gut, wenn es viele Phänomene gut beschreibt. Die Frage, ob künftige Theorien diese Phänomene vielleicht in der neunten Nachkommastelle noch ein wenig besser beschreiben könnten, ist normalerweise ziemlich irrelevant. Auf unsicheres Gebiet begibt man sich dann, wenn man Modelle auf Bereiche anwendet, für die sie nicht gemacht wurden – das muss man als Wissenschaftler akzeptieren. Das sollte uns aber nicht in die Hände eines naiven Relativismus treiben, der die Wissenschaft als beliebig, als austauschbar, als ständig umsturzgefährdet betrachtet. Vielleicht gibt es in hundert Jahren eine völlig andersartige Theorie der Gravitation. Trotzdem werden Kugeln, die man in hohem Bogen fortschleudert, sich auch dann noch in sauberen Parabelkurven bewegen. Vielleicht wird sich in hundert Jahren unsere Vorstellungen von Quantensystemen drastisch geändert haben. Trotzdem wird ein Wassermolekül dann noch immer aus einem Sauerstoffatom und zwei Wasserstoffatom bestehen. Vielleicht sprechen Wissenschaftler dann in ganz anderen Begriffen und Gedankenbildern von diesen Dingen, doch Experimente, die mit unseren heutigen Formeln gut beschrieben werden, wird man auch dann noch mit denselben Formeln gut beschreiben können.

Theorien im Werkzeugkasten der Wissenschaft

Wenn eine neue Theorie entsteht, wird die alte deshalb noch lange nicht auf dem Müllplatz entsorgt. Oft landen eben beide Theorien Seite an Seite im Werkzeugkasten der Wissenschaft – kluge Forscher müssen dann einschätzen lernen, welches Werkzeug in welcher Situation angewendet werden muss. Vieles von dem, was Wissenschaftler Jahrhunderte oder Jahrtausende vor uns erdachten, gilt heute noch genauso – denken wir nur an die großartigen Erkenntnisse antiker Mathematiker. Und auf dieselbe Weise wird unser heutiges Wissen auch von zukünftigen Generationen zwar als lückenhaft und vorläufig, nicht aber als falsch und widerlegt betrachtet werden. In diesem Sinn ist Wissenschaft, die sich in praktischen Tests bewährt hat, unwiderlegbar. Sie ist ein Werkzeug, das seine Nützlichkeit in der Praxis bewiesen hat. Vielleicht erfindet mal jemand ein noch nützlicheres Werkzeug, doch funktionieren wird das alte auch dann noch.




Quellen- und Lizenzangaben

[text], naklar/flai