"Gene sind Bleistift und Papier"

Markus Hengstschläger über Talente, Verbrechen und genetische Ursachen

Unsere DNA bestimmt unsere Haarfarbe – aber legt sie auch fest, wer wir wirklich sind? Der Genetiker Markus Hengstschläger forschte an der amerikanischen Universität Yale, bevor er an die Medizin-Universität Wien berufen wurde. Heute leitet er dort die Abteilung für medizinische Genetik. Einem breiten Publikum wurde er durch sein populärwissenschaftliches Buch „Die Macht der Gene“ bekannt.

Markus Hengstschläger
Professor Markus Hengstschläger, MedUni Wien
Quelle: [1]
naklar.at: Stellen Sie sich vor, Sie wären Richter, und der Angeklagte meint, er könne gar nichts dafür, seine Verbrechernatur sei eben genetisch vorgegeben. Was würden Sie sagen?
Markus Hengstschläger: So etwas ist natürlich Unsinn. Der Mensch ist nicht auf seine Gene zu reduzieren. Wir sind ein Produkt der Wechselwirkung unserer Gene mit der Umwelt. Es gab eine Zeit, in der Wissenschaftler dachten, der Mensch sei zu neunzig Prozent genetisch bestimmt, dann wurde jahrelang behauptet, die Umwelt wäre zu neunzig Prozent für unser Verhalten verantwortlich. Heute wissen wir: Es hängt immer enorm von der Frage ab, die wir stellen.
naklar.at: Wodurch lässt sich beweisen, dass unser Verhalten auch genetische Ursachen hat?
Markus Hengstschläger: Das ist spätestens seit den Zwillingsstudien vor vierzig bis fünfzig Jahren klar. Eineiige Zwillinge sind genetisch identisch. Alles was die gemeinsam haben ist stark genetisch, alles was die unterscheidet, muss die Umwelt wesentlich beeinflusst haben. Äußerlich sind Zwillinge, zumindest in den ersten Jahren, oft kaum zu unterscheiden. Körperbau, Größe Augenfarbe oder Haarfarbe sind offensichtlich sehr stark genetisch vorgegeben. Aber was ist das Aussehen schon wert? Bei all dem, was den Menschen wirklich zum Menschen macht, was uns an ihm interessiert, nämlich Dinge wie Intelligenz, Aggression oder Sexualverhalten, bei diesen weniger oberflächlichen Eigenschaften spielt die Umwelt eine große Rolle.
naklar.at: Lässt sich denn das auf diese Weise trennen? Zwillinge werden ja auch sehr ähnlich erzogen, erfahren ähnliche Umwelteinflüsse.
Markus Hengstschläger: Ich bin etwas überrascht, dass Genetiker für so naiv gehalten werden – solche Dinge werden natürlich berücksichtigt. Wir haben die Möglichkeit, eineiige mit zweieiigen Zwillingen zu vergleichen, die jeweils gemeinsam aufwachsen – und natürlich kontrolliert man das, indem man zur Adoption freigegebene eineiige Zwillinge untersucht, die in verschiedenen Elternhäusern großgeworden sind. Sie dürfen nicht glauben, diese Art von Forschung sei so etwas wie Astrologie, das ist harte Wissenschaft.
naklar.at: Auf welche Weise können nun Gene Charakter oder Verhalten beeinflussen?
Markus Hengstschläger: Es gibt Varianten einzelner Gene, die zum Beispiel mit einem erhöhten Aggressionspotenzial in Verbindung gebracht werden können. Allerdings: Nie hat eine Studie ergeben, dass die Gene allein die Macht hätten, uns zum Verbrecher zu machen. Es geht immer um die Wechselwirkung zwischen Genen und Umwelt. Die Gene sind Bleistift und Papier, aber die Geschichte schreiben wir selbst.
naklar.at: Welche praktische Bedeutung kann es dann haben, etwa ein Aggressions-Gen zu finden?
Markus Hengstschläger: Wenn es eine genetische Anlage zu Aggressivität gibt, können wir zwar auf diese Weise keinen Täter überführen, aber es ergibt sich eine Gefahr: Wenn es später darum geht, ihn wieder in die Gesellschaft zu integrieren, könnte ich mein Engagement für die Re-Integration davon abhängig machen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass das auch klappt. Es wäre fatal, wenn wir in diese Beurteilung auch einen Gentest mit hineinnehmen würden. Gene spielen schon eine Rolle, aber es interessiert in diesem Fall doch niemanden. Wenn es nicht für den Vorteil des Individuums im Sinn von Therapie und Prophylaxe ist, dann sind die einzigen Dinge, die man daraus lernen kann, Stigmatisierung und Einteilung in Kasten und davon haben wir nichts. Es ist völlig sinnlos, einem Kriminellen Blut abzunehmen und nach seinen genetischen Anlagen zu beurteilen, denn vielleicht habe ich die auch.
naklar.at: Die Wissenschaft kann heute bereits chemische Ursachen von Verhalten untersuchen. Wie viel hat man heute über den biochemischen Hintergrund von Verhaltensweisen und Psyche bereits verstanden?
Markus Hengstschläger: Auf diesem Gebiet wissen wir heute erst sehr wenig. Das Verblüffende ist, dass es Fälle gibt, die sehr eindeutig sind: Wir alle kennen die Wirkung bestimmter Medikamente auf unser Denken und unser Handeln. Wir kennen Schlaftabletten, Psychopharmaka, Medikamente, die Glücksgefühle auslösen, Medikamente gegen Hyperaktivität. Dass das Verhalten in Form chemischer Prozesse im Gehirn stattfindet, ist völlig unbestritten. Allerdings halte ich dieses System nicht für so einfach, dass wir Verhaltensweisen auf chemischer Ebene wirklich vorhersagen könnten. Da bin ich aber nicht unbedingt einer Meinung mit manchen Neurobiologen, die behaupten, sie hätten solche Prozesse gefunden.
naklar.at: Aber es ist prinzipiell möglich, den Mechanismus von menschlichem Verhalten auf biochemischer Ebene zu erklären?
Markus Hengstschläger: Ja, aber jedes Medikament wirkt bei jedem Menschen anders. Jedes Erlebnis, jede Situation wird von jedem anders verarbeitet. Das Gesamtsystem ist so kompliziert, dass wir es auf chemischer Ebene nie verstehen werden. Bei monogenetischen Krankheiten ist das anders: In dem Fall führt ein einzelnes Gen zu einer Krankheit. Wir wollen wissen wie und das verstehen wir auch. Aber das Gehirn, das Denken, das ist dafür einfach zu komplex.
naklar.at: Man könnte zumindest versuchen, die logische Kette von einzelnen Genen über Proteine zu biochemischen Prozessen in Nervenzellen und menschlichen Verhaltensweisen zu ergründen.
Markus Hengstschläger: Natürlich, das tun wir ja. Aber um den komplexen Mechanismus des Gehirn aufzudröseln ist das nur eine Methode von vielen. Es ist etwas anderes zu verstehen, wie ein Blutgefäß kaputtgeht, das Hirn ist eben viel komplizierter.
naklar.at: Spricht die Komplexität des Gehirns nicht eher dafür, dass für Charaktereigenschaften und Talente weniger die Gene verantwortlich sind, als unsere Erziehung und unsere Lehrer?
Markus Hengstschläger: Talentiert wird der Mensch nicht durch seine Lehrer. Jemand ist talentiert, oder er ist nicht talentiert. So wie wir dieses Wort verwenden, ist es wohl fast ausschließlich genetisch bestimmt. Aber was nützt einem Menschen ein Talent, wenn es niemand entdeckt und er nicht die Möglichkeit hat, es umzusetzen? Es gab nicht nur einen Mozart auf diesem Planeten. Nur hatte er eben das Glück auf eine Umwelt zu stoßen, die ihm die Möglichkeit gab, sein Talent zu entwickeln und auszuüben. Hätte zur selben Zeit ein Kind aus Afrika dasselbe Talent gehabt, wäre es wohl nie auf ein Klavier getroffen.
naklar.at: Für außergewöhnliche Leistungen müssen also Gene und Erziehung perfekt zusammenspielen?
Markus Hengstschläger: Das kann man nicht so eindeutig sagen. Nehmen Sie folgendes Beispiel: Herbert Grönemeyer ist wohl biologisch gesehen für seinen Beruf relativ schlecht ausgerüstet. Ich halte seine Stimme für relativ schwach, und mit seinem Aussehen würde er bei keiner Casting-Show auch nur in die zweite Runde kommen. Und trotzdem ist er für mich der beste deutschsprachige Musiker. Was das mit seinen Genen zu tun hat, kann ihm doch völlig egal sein.
naklar.at: Was würden Sie Eltern sagen, die ein Kind adoptieren und sich fragen, ob sie dem Kind ihre Fähigkeiten und Sichtweisen mitgeben können, auch wenn es nicht ihre Gene hat?
Markus Hengstschläger: Die biologische Elternschaft wird maßgeblich überschätzt. Sie hat gesellschaftlich einen Wert, den ich einfach nicht nachvollziehen kann. In Österreich ist jedes zehnte Kind nicht von dem Vater, von dem es zu sein glaubt – und ergibt sich irgendein Problem daraus? Ich kenne keines. Wenn das niemandem auffällt, müssen wir auch fragen, welche Bedeutung die biologische Vaterschaft überhaupt hat. Wenn mir Eltern sagen, sie wollen ein Kind, um ihre Gene weitergeben zu können, dann halte ich das für ein schwaches Argument. Wenn Sie aber fragen, wie die Eltern dem Kind etwas weitergeben können: Da kenne ich tausend Möglichkeiten.


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Quellen- und Lizenzangaben

[text], www.CHiLLi.cc, in Kooperation mit CHiLLi.cc
[teaser-bild], ecowin-verlag, Ausschnitt aus [1]
[1], ecowin-verlag, Presseinformation