Paradigmenwechsel

Aus anfänglichem Unwissen entstehen sehr verlässliche Theorien – so entwickelt sich die Wissenschaft weiter. Die Phlogiston-Theorie ist ein schönes Beispiel dafür, wie ein solcher Prozess vor sich gehen kann. Eine wissenschaftliche Umwälzung hat immer mit neuen, außergewöhnlichen Ideen zu tun, mit sauber durchgeführten Experimenten und Beobachtungen – und nicht zuletzt auch mit persönlichen Eitelkeiten und Machtkämpfen zwischen Wissenschaftlern.

Zunächst liegt häufig ein mangelndes oder falsches Verständnis elementarer Prozesse vor. Bei der Phlogiston-Theorie war es ein unzureichendes Bild von chemischen Elementen, Energieübergängen und chemische Reaktionen. Man versucht ein Phänomen zu erklären (die Verbrennung), das auf diesen elementaren Prinzipien aufbaut. Erste Überlegungen führen zu einer zunächst plausiblen, aber im Grunde falschen Theorie – in unserem Fall zur Theorie des Phlogistons, das bei der Verbrennung in die Luft entweichen soll, solange bis die Luft gesättigt ist und kein weiteres Phlogiston mehr aufnehmen kann.

Theorie und Experiment
Unsere Vorstellung bestimmt, was wir überhaupt erst ausprobieren.

Die Theorie bestimmt das Experiment

Ab diesem Zeitpunkt ist diese Theorie die Leitlinie für die Durchführung und Interpretation neuer Experimente. Dies ist einer der wesentlichsten Gesichtspunkte. Es wird damit klar, warum ein naiver Empirismus nicht funktionieren kann: Experimente werden niemals ohne Bezug zu bestehenden Theorien durchgeführt. Gewisse Ideen über die Natur oder das betrachtete System müssen vorhanden sein um ein sinnvolles Experiment planen zu können. Beispielsweise muss ich wissen oder wenigstens vermuten, dass es Verbrennung gibt und dass (verschiedene?) Substanzen sowie Luft daran beteiligt sind. Wie sonst sollte ich auf die Idee kommen Gase zu verbrennen und die Rückstände zu analysieren? Je komplexer die wissenschaftlichen Experimente werden, umso mehr Vorwissen ist notwendig um diese planen, durchführen und auswerten zu können.

Ein Expertenstreit entbrennt

Nun kommt es infolge dieser Experimente zu erheblichen Ungereimtheiten (wie einer Massen-Zunahme bei der Verbrennung von Metallen), die durch die Theorie eigentlich nicht gedeckt sind. Von den Vertretern der etablierten Theorie (Phlogiston) wird hier häufig versucht die Theorie anzupassen und damit zu retten. Dies ist zunächst nicht verkehrt. Viele Theorien sind ja nicht sofort obsolet wenn widersprüchliche Erkenntnisse auftauchen, sondern entwickeln sich weiter und bedürfen fallweise Korrekturen. Ab einem bestimmten Punkt (etwa bei der Annahme der negativen Masse des Phlogistons) werden die Modifikationen aber fragwürdig. Und dennoch schaffen es viele Vertreter der etablierten Schule selbst an diesem Punkt noch nicht die Grundannahmen zu hinterfragen. Auch im 19. und 20. Jahrhundert findet man genügend derartige Beispiele.

Expertenstreit
Neue Ideen gegen althergebrachte Überzeugungen - keine einfache Auseinandersetzung

So gab es im neunzehnten Jahrhundert auch heftige Diskussionen um die Natur elektromagnetischer Wellen: Gibt es einen Äther, ein Medium, in dem sich Licht ausbreitet, wie Schall in der Luft? Experimente zeigten schließlich, dass Licht ohne Trägermedium auskommt. Rund um die Urknall-Theorie gab es Kontroversen zwischen Kosmologen: Kann es sein, dass sich das Universum ausdehnt, oder befindet es sich in einem gleichbleibenden Zustand? (Steady State Theorie um Fred Hoyle.) Auch um den Atomismus gab es Ende des 19. Jahrhunderts Meinungsverschiedenheiten, als längst noch nicht alle Wissenschaftler an die Existenz von Atomen glaubten.

„Neu“ heißt noch nicht „besser“

Meist folgt dann eine Spaltung in mehrere heftig umkämpfte Lager. Die (meist älteren) Vertreter der etablierten Theorie bestimmen mit ihrer noch größerer Autorität die Diskussion. Lord Cavendish aber auch Joseph Priestley waren bis zu ihrem Tod heftige Verfechter der Phlogiston-Theorie, obwohl sie mit ihren Experimenten eigentlich selbst die Grundlage zu deren Ablösung gelegt hatten. Auch kämpfen die (meist jüngeren) Vertreter der neuen Idee noch mit Unzulänglichkeiten ihrer Theorie. Sie mag konzeptionell richtig sein, ist aber oft noch nicht im Detail ausgearbeitet. Sie führt möglicherweise damit in der Praxis noch zu schlechtere Voraussagen als die (an sich falsche) ältere Theorie. Das kann man im Streit um die Äther-Theorie aber auch in der Diskussion zwischen Vertretern des geo- und heliozentrischen Systems beobachten: Entgegen der häufigen Annahme ist es eben nicht so, dass das heliozentrische System (mit der Sonne im Mittelpunkt) des Kopernikus eindeutig besser war und nur durch die Autorität der Kirche im Mittelalter unterdrückt wurde. Zwar gab es diese Unterdrückung, aber auch auf rein wissenschaftlicher Ebene erlaubte das über lange Zeit ausgearbeitete geozentrische Modell (mit der Erde im Mittelpunkt) deutlich bessere Voraussagen als das zunächst noch mangelhafte heliozentrische System. Erst die weiteren Modifikationen und Verbesserungen etwa durch Kepler (Ellipsenbahnen, Keplersche Gesetze) brachten dann den wissenschaftlich gerechtfertigten Umschwung.

Widerspruch
Ältere Wissenschaftler geben ihre Meinung vielleicht nicht auf - aber die junge Generation wendet sich zum Neuen hin.

Überholte Theorien sterben aus

Auch der Tod ist häufig ein wichtiger Faktor für den Meinungsumschwung in der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Der große Physiker Max Planck drückte es so aus: "Eine neue große wissenschaftliche Idee pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner allmählich überzeugt und bekehrt werden – dass aus einem Saulus ein Paulus wird, ist eine große Seltenheit – sondern vielmehr in der Weise, dass die Gegner allmählich aussterben und dass die nachwachsende Generation von vornherein mit der Idee vertraut gemacht wird." Diese Ansicht ist wohl etwas zu radikal, aber die tiefe menschliche Dimension des Fortschrittes von Ideen ist nicht zu leugnen. Letztlich erkennt aber die Mehrheit der Wissenschafter eines Fachbereiches, dass die neue Theorie gegenüber der alten zu bevorzugen ist, bzw. die alte nur ein Spezialfall der allgemeingültigeren neuen Theorie ist. Es tritt eine neuen Phase, oder, wie Kuhn es ausgedrückt hat, ein neues Paradigma in Kraft.

Alexander Schatten / red




Weiterlesen...



Quellen- und Lizenzangaben

[text], Alexander Schatten