Von Logik und bärtigen Barbieren

Logische Formeln und zerstörtes Lebenswerk: Umwälzungen in der Mathematik

Bart
Logisch: Rasieren oder nicht rasieren?

Der Barbier von Sevilla rasiert alle Männer, die sich nicht selbst rasieren. Trägt er einen Bart oder nicht? Wenn er keinen Bart trägt, muss er sich selbst rasiert haben – doch er rasiert ja nur Männer, die sich nicht selbst rasieren. Wenn er einen Bart trägt, gehört er zu den Männern, die sich nicht selbst rasieren, müsste sich also somit rasieren. Was nun? Logische Widersprüchlichkeiten dieser Art sind schon lange bekannt. Sie sind aber viel mehr als harmlose Kinderrätsel. Ähnliche, wenn auch abstrakter formulierte Probleme bereiteten vielen großen Mathematikern schweres Kopfzerbrechen.

Kein Raum für Irrtum

Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wurde versucht, die Mathematik nicht nur als angewandte Wissenschaft zu betreiben, sondern ihr ein logisch festes Fundament zu geben. Jede mathematische Regel sollte zwingend aus anderen Regel bewiesen werden. Kein Raum für Irrtum sollte bleiben und kein mathematischer Satz einem anderen widersprechen. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung war die Mengenlehre, die der deutsche Philosoph Gottlob Frege mitentwickelte.

Mengenlehre kann sehr einfach sein. Die Menge der Bundesländer Österreichs beispielsweise besteht aus neun Elementen. Es gibt Mengen, die unendlich viele Elemente beinhalten, etwa die Menge der natürlichen Zahlen. Komplizierter wird die Mengenlehre, bei Mengen, die sich selbst enthalten. Die Menge aller mathematischen Objekte enthält sich zum Beispiel selbst, denn auch eine Menge ist ein mathematisches Objekt.

Frege gegen Russell

Frege
Gottlob Frege

Während Frege in Jena an seinem Buch über streng formale Mengenlehre arbeitete, forschte in Cambridge der junge Bertrand Russell an ganz ähnlichen Fragen. Bei seinen Forschungen stieß er auf fundamentale logische Schwierigkeiten. Russell dachte über die Menge aller Mengen nach, die sich nicht selbst enthalten. Enthält sich diese Menge nun selbst oder nicht? Diese Frage führt genau wie das Barbier-Paradoxon auf einen logischen Widerspruch, doch in einer sauberen mathematischen Theorie darf es keine inneren Widersprüche geben.

Russell berichtete Frege in einem Brief über diese Überlegung, Frege war tief getroffen, er sah sein Lebenswerk in Gefahr. Der zweite Band seiner „Grundgesetze der Arithmetik“ befand sich gerade im Druck, er ergänzte ihn noch mit einer Anmerkung: „Einem wissenschaftlichen Schriftsteller kann kaum etwas Unerwünschteres begegnen, als daß ihm nach Vollendung einer Arbeit eine der Grundlagen seines Baues erschüttert wird. In diese Lage wurde ich durch einen Brief des Herrn Bertrand Russell versetzt, als der Druck dieses Bandes sich seinem Ende näherte.“ Frustriert wandte sich Frege von seinem großen Projekt ab.

Hilberts Programm

Bertrand Russell veröffentlichte einige Jahre später mit seinem Lehrer Alfred Whitehead das berühmte Buch „Principia Mathematica“, in dem er die Mengenlehre abwandelte. Ganz gelöst war das Problem auch dadurch nicht. Noch immer suchten die großen Logiker, wie der berühmte deutsche Mathematiker David Hilbert nach einem Regelsystem, mit dem man von jeder mathematischen Aussage eindeutig beweisen konnte, ob sie richtig oder falsch ist, ohne dass es zu logischen Widersprüchen kommen könnte.

Gödels Unvollständigkeitssatz

Dieses Ziel, das die größten Mathematiker jahrzehntelang beschäftigt hatte, wurde schließlich vom erst dreiundzwanzigjährigen Kurt Gödel aus Wien umgestoßen. Er konnte beweisen, dass es mathematische Aussagen gibt, die sich einfach nicht mathematisch beweisen lassen. Gödel entwickelte ein Verfahren, Formeln oder mathematische Sätze in Zahlen auszudrücken. Wenn eine Formel, die eine Aussage über Zahlen macht, gleichzeitig auch selbst eine Zahl ist, dann kann sie auch eine Aussage über sich selbst treffen – so wie ein Barbier sich selbst rasieren kann. Auf diese Weise konstruierte Gödel eine Formel, die von sich selbst behauptet: „Ich bin nicht beweisbar“.

Wenn auch seit Gödel feststeht, dass nicht jeder mathematische Satz beweisbar ist – die mathematische Forschung kam dadurch nicht zum Erliegen. Niemand muss Angst haben, dass zwei plus zwei wegen Gödels Unvollständigkeitssatz plötzlich nicht mehr genau vier ergibt. Dass Gödel aber die mathematische Forschung grundlegend verändert hat, steht noch heute außer Zweifel.

Und der Barbier?

Für alle, denen das Barbier-Paradoxon sonst schlaflose Nächte bereitet: Es lässt sich leicht auflösen, wenn man annimmt, dass der Barbier von Sevilla eine Frau ist. Hätte es für Russells Mengenlehre-Problem auch so einen einfachen Trick gegeben, wäre Frege und anderen großen Mathematikern wohl viel Kummer erspart geblieben. Aber manche Dinge sind eben komplizierter und verwirrender, als sich selbst die größten Experten am Anfang träumen lassen.



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Quellen- und Lizenzangaben

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