Hat mein rosa Einhorn Flügel?

Die Wissenschaft weiß auch nicht alles. Aber was es nicht gibt, kann man auch nicht wissen.

Die Wissenschaft weiß auch nicht alles! - Das bekommt man oft zu hören, wenn man gegen esoterische Behauptungen argumentiert, denen jede wissenschaftliche Basis fehlt. Vielleicht ist die Wissenschaft einfach noch nicht weit genug, heißt es dann. Vielleicht ist unsere Schulweisheit heute einfach noch nicht ausreichend hoch entwickelt, um zu verstehen, welche geheimnisvolle Kraft der Wasseradern auf uns wirkt, worin die ewige astrologische Macht der Sterne besteht, und durch welche wundersamen Mechanismen Homöopathie uns heilen kann? Ist vielleicht das, was wir heute für esoterischen Unfug halten, morgen dann doch anerkannte Wissenschaft? Die Antwort ist ziemlich einfach: Nein.

Die Wissenschaft muss nicht alles wissen

Natürlich weiß die Wissenschaft nicht alles – das ist ihr innerstes Wesen. Wissenschaft betreiben heißt weitersuchen. Forschen heißt Rätsel zu lösen und dabei immer weitere, neue Fragen zu stellen. Jeder Gipfel, den wir mühsam erklettern, eröffnet einen weiteren Blick auf neues, unerforschtes Gebiet. Natürlich ist die Wissenschaft niemals abgeschlossen. Sicher gibt es physikalische Effekte, von denen wir heute keine Ahnung haben. Ganz gewiss erwarten uns in der Zukunft wissenschaftliche Erkenntnisse, die wir mit den Worten, die wir heute kennen, nicht einmal beschreiben könnten. Das heißt aber noch lange nicht, dass man jeden Blödsinn als theoretisch möglich anerkennen muss. Um zwischen Wahr und Falsch zu unterscheiden, muss man nämlich zum Glück nicht alles wissen.

rosa Einhorn
"Jeden Tag pünktlich um Mitternacht kommt mich ein rosa Einhorn besuchen." - eine relativ einfach widerlegbare Theorie.

Der entscheidende Punkt ist leicht erklärt: Auch wenn man keine Ahnung hat, wie etwas funktioniert, kann man testen, ob es funktioniert. Den tiefen physikalischen Hintergrund eines Phänomens erklären zu können ist etwas ganz anderes als festzustellen, ob es das Phänomen überhaupt gibt. Um die Theorie zu widerlegen, dass in meinem Badezimmer ein rosa Einhorn wohnt, muss ich dort nur nachsehen. Ich muss nicht wissen, wovon sich rosa Einhörner ernähren, woher sie kommen, und ob sie große, weiße Flügel haben.

Wir können beobachten, ohne Erklärungen zu haben

In der Wissenschaft kam es schon oft vor, dass man etwas beobachten konnte, ohne eine Erklärung dafür zu haben. Die Bahnen der Planeten wurden exakt aufgezeichnet, lange bevor Newton die passenden Gleichungen fand um sie zu erklären. Die Farbe von glühendem Metall wurde mit großem Interesse beobachtet, lange bevor Max Planck sie erstmals berechnen konnte. Auch heute noch verschreiben Ärzte oft Medikamente, von denen niemand genau sagen kann, auf welche Weise sie wirken. Um einen Effekt wissenschaftlich nutzen zu können, muss man nicht wissen, wie er im Detail abläuft – aber man muss beobachtet haben, dass es ihn gibt.

Und genau hier liegt das Problem mit esoterischem Wunderglauben: Die dort behaupteten Effekte erweisen sich bei näherer Betrachtung meist als Einbildung, Selbstbetrug oder Zufall. Das lässt sich meist ziemlich einfach untersuchen. Man kann Wünschelrutengeher nach Wasser suchen lassen, die Vorhersagekraft von Astrologen überprüfen und in klinischen Studien ausprobieren, ob Homöopathie besser wirkt als ein Placebo. Die Resultate sind immer wieder dieselben: Solche Phänomene gibt es nicht. Behauptungen, die später als wissenschaftlich anerkannt wurden, haben diesen Test hingegen immer schon bestanden. Die Planetenbahnen gab es, beobachtbar, überprüfbar, unbestreitbar - schon lange bevor man sie erklären konnte.

Theorie falsch – Details egal

Wenn es ein Phänomen gar nicht gibt, dann ist es auch sinnlos, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, auf welche Weise es funktionieren soll. Wenn es keine geheimnisvoll strahlenden Wasseradern gibt, dann muss man nicht erforschen, wie sie auf uns wirken. Wenn Horoskope einfach nicht stimmen, dann ist es unnötig, über bisher unentdeckte Kräfte zwischen uns und den Sternen zu suchen. Diese Aussage ist glücklicherweise völlig unabhängig vom aktuellen Stand der Wissenschaft: Am Speisezettel des rosa Einhorns in meinem Badezimmer werden auch zukünftige wissenschaftliche Entdeckungen niemals etwas ändern können. Dass die Wissenschaft auch nicht alles weiß, ist zwar richtig – aber das ist kein Argument für Behauptungen, die unseren Beobachtungen widersprechen. Ich kann nie mit vollkommener Gewissheit ausschließen, dass irgendwo auf der Welt rosa Einhörner leben. Ich weiß nicht, ob sie Flügel haben und was sie fressen. Aber dass in meinem Badezimmer keines wohnt, das weiß ich. Ich habe nachgesehen.




Quellen- und Lizenzangaben

[text], naklar/flai